Authentisch, ungebunden und echt: Warum sich die Generation Z in #digicams verliebt hat

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Shot taken from in the crowd at a concert. The stage lights shine down in the distance and hands are raised in the crowd. To the left, a young woman is on someone’s shoulders, her arms raised, making a heart shape with her hands.

Die „Lo-Fi“-Ästhetik der späten Neunziger und frühen Nullerjahre ist bei der Generation Z schon seit einiger Zeit angesagt. Auf Social Media wimmelt es von Schnappschüssen, die das genaue Gegenteil von perfekt in Szene gesetzten Selfies sind. Sie sind ganz im Moment – chaotisch, überbelichtet und unbearbeitet – machen dafür aber eine Menge Spaß. Was wir hier sehen, scheint wirklich spontan und authentisch zu sein. Nicht gestellt. Nicht posiert. Echt.

Und obwohl Apps und Filter den körnigen, schlecht beleuchteten „Indie Sleaze“ Look ziemlich gut nachstellen, gibt es eine große Nachfrage nach „Vintage“-Digitalkameras (oder #digicams wie man sie in der Szene liebevoll nennt). Dazu gehören natürlich auch die kompakten IXUS und PowerShot-Modelle von Canon, die diesen Look ganz natürlich liefern. Und das ist entscheidend. Als die Generation Z Social Media für sich entdeckte, hatten die Millennials bereits ihre Welt kunstvoll fotografiert, die Bilder bearbeitet und kuratiert.

Gen Z und Gen Alpha sehen den Sinn aber nicht darin, ihrem Publikum zu gefallen, sondern gefallen sich lieber selbst. Das heißt aber nicht, dass sie egoistisch sind – sie haben einfach andere Werte als die, die wir in den letzten zehn Jahren auf Social Media gesehen haben. Wenn uns zehn Jahre voller gestylter Selfies, Fitnessstudio-Posen und Posts vom Betrachten eines Sonnenuntergangs mit dem Hashtag #blessed etwas gelehrt haben, dann ist das eins: Social Media ist harte Arbeit. Warum um alles in der Welt sollte eine Generation, die mit einer Krise nach der anderen aufgewachsen ist, sich noch mehr Stress zumuten wollen?

Diese Priorisierung von „Sein ist wichtiger als Schein“ ist viel zu integral für ihre Online-Präsenz, um einfach als Trend abgetan zu werden. Das wirft folgende Frage auf: Wird sie nur vom Unmut gegenüber der gefilterten und publikumsfreundlichen Herangehensweise der Millennials angetrieben, oder ist da womöglich etwas Grundsätzlicheres im Spiel? Könnte es sein, dass wir fast in Echtzeit Zeug:innen einer erschöpften Post-Covid-Generation werden? Von jungen Leuten, die filtermüde sind und gleichzeitig überall von generativer KI umgeben sind? Die in einer Welt leben, in der sie alles und alle in Frage stellen müssen, aber dennoch permanent „on“ sein wollen?

An unposed shot of four young people on a night out. They are holding hands and laughing hard.

Das ist ganz schön viel. Aber was hat das mit den nicht-perfekten Schnappschüssen mit wenigen Megapixeln zu tun? Wie üblich, findet man auch dazu auf Social Media eine Menge Antworten. Jugendliche, die 2008 geboren wurden, wären 12 Jahre alt gewesen, als der erste Covid 19-Lockdown in Kraft trat. Der hat sie dann direkt vom Spielplatz in eine Welt katapultiert, die vorwiegend online stattfand. Diese Welt platzte aus allen Nähten vor Fehlinformationen über die Pandemie und Verschwörungstheorien – und das in einer Zeit, in der Fotos im Handumdrehen bearbeitet und verbreitet werden konnten. Auf diesen Fotos ist dann keine Person mehr die, die sie zu sein scheint, weil sie von Instagram-Filtern, Facetune und Photoshop „optimiert“ wurde. Dann ging Covid und die generative KI kam. Absolute Fantasien sind plötzlich nur noch eine Eingabeaufforderung entfernt.

Es gibt einfach nicht genügend Emojis, um die geistige Schwerstarbeit auszudrücken, die diese jungen Menschen in nur vier absolut erstaunlichen Jahren leisten mussten. Die Kombination aus sozialer Isolation und verstärktem Einsatz von Technologien hat bei jungen Menschen einen teilweise extrem negativen Einfluss auf die psychische Gesundheit gehabt. Auch Pädagog:innen berichten regelmäßig, dass ihre Schüler:innen weniger Vertrauen haben und ängstlicher sind. Ist es da ein Wunder, dass sie nach etwas wirklich „Echtem“ suchen?

Da ist das Wort wieder. Es ist eine ganz bewusste Entscheidung. Um das zu verdeutlichen, machen wir eine kleine Übung. Überlegen Sie einmal, wie ein typisches Jugendzimmer in den 1990er Jahren im Vergleich zu heute ausgesehen haben könnte. Dort hingen wahrscheinlich Poster an den Wänden, Kleidung lag auf dem Boden herum und überall standen leere Tassen und Gläser, über die sich schon Generationen von Eltern beschwert haben. Aber es gäbe auch überall Bücher, Zeitschriften und CDs. Nirgendwo wäre ein Laptop, Tablet, Smartphone oder E-Reader. Es ist bezeichnend, dass junge Leute zur gleichen Zeit, in der sie in Schränken und Secondhand-Läden nach den alten Canon-Kameras aus der Zeit ihrer Eltern suchen, auch CDs kaufen und sich zum Geburtstag einen Mini-Fotodrucker wünschen.

A blurry photo of two people, with a third out of shot, holding sparklers

Das fällt genau in die Zeit, in der ein Fehler bei Instagram dazu führte, dass jede Menge digital gespeicherte Storys für immer verloren gingen. Künstler:innen, frustriert über die schlechten Erträge bei den Streaming-Diensten, verkaufen wieder CDs in limitierter Auflage mit exklusiven Titeln, Postern, Aufklebern und Anstecknadeln. Das sind alles Dinge, die man anfassen und wertschätzen kann. Auch wenn es praktisch ist, scheinen die nicht vorhandene Greifbarkeit und der Risikofaktor bei den Abonnementdiensten Jugendliche immer mehr abzuschrecken. Sie wollen mehr physischen Besitz und etwas mehr sicheren Abstand von der Online-Welt, wann immer es ihnen passt. Eine Digitalkamera in die Hosentasche zu stecken, unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht von der virtuellen Nutzung des Handys. Aus Sicht der Jugendlichen von heute besteht hier jedoch ein riesiger Unterschied.

Denn was auch immer passiert – sie sind eine vernetzte Generation. Alles an ihnen ist kulturell geprägt von mobilen Online-Technologien, die mit ihnen zusammen auf die Welt kamen. Mit den enormen Vorteilen geht ein ebenso großer Druck einher. Dazu gehört auch die Angst davor, dass ihr Gesicht überall auftauchen könnte. Eine Digicam eröffnet einen Raum zwischen Spaß und Handy. Sie ermöglicht eine kleine Zeitreise in das Jahr 2002, in dem sich niemand darum kümmerte, perfekt auszusehen und in dem nichts mit den Fotos gemacht wurde, bis sie gezeigt wurden.

In einer Zeit, in der sich die Welt mit einer Million Meilen pro Stunde bewegt und Dinge innerhalb von Minuten viral gehen, hat es etwas Sanftes, Erfreuliches und Gesundes, dass junge Menschen sich dafür entscheiden, Raum zwischen den Bildern, die sie aufnehmen und den Orten, an denen sie sie teilen, zu schaffen. Es scheint, dass sie auf den Druck von Social Media reagieren, indem sie – bewusst oder unbewusst – versuchen, von innen heraus eine Veränderung herbei zu führen. Indem sie das Smartphone beim Ausgehen an die zweite Stelle setzt, trennt sich die Gen Z vorübergehend von der Online-Welt, hat aber immer noch den entscheidenden Beweis für eine tolle Zeit. Denn, wie man so schön sagt: „Bilder, oder es ist nicht passiert.“

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